Das große "A"

Immer wieder stolpert man in der Mittelalterszene über den Begriff "A", oder seine Steigerungsformen wie "A++", über den eifrig diskutiert und manchmal regelrecht Krieg geführt wird, als ginge es um die Errettung von irrgeleiteten Seelen. Doch was verbirgt sich hinter diesem Kürzel?

Ein Erklärungsversuch.

 

Kurz auf den Punkt gebracht, dieses "A" steht für "authentisch" oder "Authentizität".
Wikipedia meint dazu:

 

Authentizität (authentisch) bezeichnet eine kritische Qualität von Wahrnehmungsinhalten (Gegenständen oder Menschen, Ereignissen oder menschliches Handeln), die den Gegensatz von Schein und Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als authentisch gilt ein solcher Inhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung, unmittelbarerer Schein und eigentliches Sein, in Übereinstimmung befunden werden. [...]

 

Und weiter: Authentizität von verschiedenen aufgefundenen Artefakten (z. B. Kunstwerken, Münzen, Schriftstücken) bedeutet, dass der zu untersuchende Gegenstand tatsächlich von der Person, dem Autor oder Quelle stammt, von der er vorgibt zu stammen, also weder Fälschung noch Fehlzuschreibung ist. [...]

 

Demnach müsste also alles mittelalterlich Authentische tatsächlich aus dieser Zeit stammen, also ein archäologischer Fund oder ein Museumsstück sein. Aber so einfach ist es nicht.

 

In der Reenactment-Szene hört man zwar manchmal auch die Übersetzung "Ausgegraben und Angezogen", aber gemeinhin wird als "A" bzw. "authentisch" der Versuch bezeichnet, die Darstellung einer bestimmten Zeit und Person, oder einzelne Teile der Ausrüstung und Kleidung dafür, möglichst exakt nach dem aktuellen Wissensstand nachzubilden. Also so, wie es damals wahrscheinlich war. Dabei kann man sich natürlich nur an erhalten gebliebenen Quellen und Fundstücken orientieren; also an dem, was belegbar ist und nicht an dem, was vielleicht auch hätte sein können. Das wird allerdings umso schwieriger, je weiter man sich in der Geschichte zurück bewegt. Es gibt also auch einen gewissen Interpretationsspielraum.

 

Gerade dieser Spielraum oder allgemein die Herangehensweise an das Thema spalten oft die sogenannte Mittelalterszene und führen zu anfangs genannten Glaubenskriegen. Auf der einen Seite stehen die, die viel Zeit, Geld und Arbeit in Recherche, Quellenstudium und die Rekonstruktion von authentischer Kleidung und Ausrüstung investieren. Jedes Stück muß von Hand gefertigt werden, ohne moderne Hilfsmittel und Materialien. Sie sehen ihre Arbeit oft als Bildungsauftrag, um Interessierten ein möglichst korrektes Bild der dargestellten Zeit zu präsentieren.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einfach nur aus Spaß auf Mittelaltermärkte gehen, oft in nur grob historisch orientierter Ausstattung oder überhaupt in Fantasy-Gewandung. Es geht ihnen hauptsächlich um den Spaß und die Stimmung auf solchen Festen, um das Eintauchen in eine "andere Welt". Historische Korrektheit ist dabei oft kein primäres Thema.

Leider hat die eine Seite oft keinerlei Verständnis für die andere Seite. Die Authentiker verabscheuen alles, was nicht wissenschaftlich belegbar oder gar böswillig Fantasy ist und sprechen anderen das Recht ab, den heiligen Boden des Mittelaltermarktes betreten zu dürfen. Wenn dann noch Gestalten aus bekannten Fantasy-Filmen auftauchen, ist es aus mit dem Festfrieden. Die Fantasy-Fraktion hingegen ist der festen Überzeugung, dass die Authentiker grundsätzlich keinen Spaß im Leben haben und deshalb an allem herumnörgeln. Sie geben ihren Gegnern oft liebevolle Namen wie Authentik-Faschisten und andere Schmeicheleien.

Ich habe diese beiden Extreme bewußt übertrieben dargestellt, doch manchmal ist dieses Bild realer, als es sein sollte. Zwischen diesen beiden Fraktionen gibt es dann natürlich noch die ganze Bandbreite an "Graustufen", also alle, die sich mehr oder weniger intensiv mit dem Thema Mittelalter beschäftigen.

 

Es ist müßig darüber zu diskutieren, welche Seite mehr im Recht ist als die andere. Solange "Mittelaltermarkt" oder "Ritterspiele" keine eingetragenen Markennamen oder Gütesiegel sind, findet auch das ganze Sammelsurium der Szene auf solchen Veranstaltungen Platz. Entscheidend ist hier allerdings das richtige Etikett. Wenn eine Darstellung nicht historisch korrekt, das eine oder andere geschummelt ist oder von vorn herein der Phantasie entstammt, sollte das auch anderen gegenüber kommuniziert werden. Denn dieser Etikettenschwindel, den man sonst betreibt, ist eine der eigentlichen Ursachen für Meinungsverschiedenheiten in der Szene. Denjenigen, die viel Zeit und Arbeit in die korrekte Darstellung investieren, ist es natürlich oft ein Dorn im Auge, wenn andere für weniger Arbeit die gleichen Früchte ernten. Wer nicht auf einem bestimmten Niveau arbeitet oder das garnicht möchte, sollte das auch nicht von sich behaupten.

 

Wie auch immer, die Diskussionen um das große "A" werden sicher auch in Zukunft noch geführt werden und die Extreme beider Seiten werden sich unvereinbar gegenüber stehen. Doch für viele ist es, zum Glück, das, was es sein sollte: Ein Hobby für geschichtlich Interessierte, das Spaß macht, Menschen zusammen bringt, vergangene Zeiten wieder aufleben lässt und den modernen Alltag unserer Welt für einen Moment vergessen lässt. Eine gewisse Romantik lässt sich da nicht vermeiden, denn viele, die sich intensiv mit dem Mittelalter beschäftigen, sind der gleichen Meinung: Wirklich leben will in dieser Zeit kaum jemand!