Eines Tages...

Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, als er sich nach Luft ringend an der Mauer festhielt. Die Wände der engen Gasse warfen sein Keuchen hallend zurück, als würden sie sich mit einem gehässigen Lachen über ihn lustig machen. Sein Herz raste. Was war geschehen?

Enathan setzte sich auf die Stufen eines Hauseingangs und sah sich um, versuchte herauszufinden, wo er war. Und vor allem, warum er hier war. Es war Nacht, so viel war ihm klar. Grelle Farben von Neonlichtern und holografischen Anzeigen drangen von einem Ende der Gasse ein und versuchten vergeblich die Dunkelheit zwischen den alten Gebäuden zu vertreiben. Irgendwo am anderen Ende, wo es noch dunkler war, fiel eine Glasflasche klirrend um, als ein Penner sich, vom Lärm geweckt, in seinem Nest aus alten Decken und zerbrochenen Kisten umdrehte.

Enathan kannte die Gasse. Es war eine der vielen schmalen, verwinkelten Seitengassen in der halbverfallenen Altstadt von Graz. Er war hier sicher schon das eine oder andere Mal durch gerannt oder hatte sie mit seinem Hoverbike als Abkürzung genommen, um einer Polizeistreife zu entgehen oder um bei einem Wettrennen mit Freunden einen kleinen Vorteil zu erringen. Doch warum war er jetzt hier? So sehr er auch angestrengt nachdachte, an der Stelle, wo sonst die Erinnerung sein müsste, war nur ein dunkles Loch, das sich immer mehr mit stechenden Kopfschmerzen füllte.

 

„Das war ja mal 'ne echt krasse Aktion!“

Er zuckte zusammen, als er die Stimme hörte.

„Hast ihn einfach umgehauen.“ Sie saß ein paar Meter höher auf einem Mauervorsprung der gegenüber liegenden Wand und grinste ihn verschmitzt an. Ihre roten Locken fielen ihr dabei ins Gesicht.

„Was?“ Irgendwie kannte er das Gesicht, aber er wusste nicht woher. Sie war ein, zwei Jahre jünger als er, vielleicht sechzehn. „Was willst du? Wer bist du überhaupt?“, fragte er schroff.

„Rosie.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Schon vergessen?“

„Rosie...“, sprach er ihr langsam nach, als würde das Wiederholen des Namens die Erinnerung zurück bringen.

„Rosie. So heiße ich“, echote sie. „Sag mal, wie hast du das gemacht?“

„Wie hab ich was gemacht?“

„Na grade eben. Hast meinen Bruder einfach umgehauen. Nicht dass es mich stören würde, er hat es sicher verdient, weil er ja auch immer gemein zu anderen ist, aber es sah schon sehr schräg aus. Verrätst du mir, wie du das gemacht hast?“, sprudelte es aus Rosie heraus.

„Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich kenne deinen Bruder nicht.“ Enathan spürte, wie er langsam wütend wurde. Er hatte noch immer keine Ahnung, was passiert war, aber offenbar hatte er mal wieder Schwierigkeiten. Auch wenn nicht alle seine Sorge teilten. Doch Rosies freches Grinsen machte die Situation nicht gerade besser.

„Ich brauch was zu trinken“, stellte er am Ende seiner Überlegungen fest und sah sich erneut um, als würde sich allein durch seinen Wunsch die Tür zur nächsten Kneipe öffnen. Ohne weiter auf Rosie zu achten stand er auf und ging den Neonlichtern entgegen.

 

Wenig später betrat er das XRay, eine heruntergekommene Bar, in der sich Punks und Biker, längst zu alte Nutten und andere Nachtschattengewächse zuhause fühlten. Eine Wand aus Rauch und dem Geruch von billigem Alkohol stemmte sich ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Irgendetwas an lauter, trashiger Musik dröhnte aus den alten Boxen. Zielstrebig ging er zur Theke.

„Na was geht?“, begrüßte ihn Tommy, der als Barkeeper schon ebenso zum Inventar gehörte, wie die immer gleichen Gestalten, die Nacht für Nacht die abgenutzten Sofas besetzten.

„Ach, frag nicht“, gab Enathan zurück und setzte sich auf einen freien Barhocker. Er strich sich die rotblonden, halblangen Haare zurück und versuchte dabei möglichst cool zu wirken. Es gelang ihm nicht.

„Das Übliche?“

„Nein, gib mir einen doppelten Zero G.“

„So schlimm?“ Tommy musterte ihn einen Moment, griff dann zu einem Glas und füllte es mit einer klaren Flüssigkeit. Ohne wirklich hinzusehen kippte sich Enathan den Inhalt in den Hals und schob das leere Glas zu Tommy zurück. Dieser schenkte nach und lies dann die schlanke Flasche wieder unter der Theke verschwinden. Der hochprozentige Alkohol brannte seinen Hals hinunter und Enathan spürte, wie sich in seinem Bauch wohlige Wärme breit machte. Das bringt zwar nicht meine Erinnerung zurück, dachte er sich, aber man fühlt sich wenigstens nicht so elend dabei.

„Freundin von dir?“ Tommy nickte zur Tür, wo gerade Rosie hereinkam und trotzig auf die beiden zu stapfte.

Enathan seufzte gequält und wollte schnell ein Gespräch mit dem Barkeeper beginnen, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und zog sich mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln ans andere Ende der Theke zurück.

„Man könnte meinen, du läufst vor mir davon“, baute sie sich vor ihm auf und stütze die Hände in die Hüften. „Das war nicht nett von dir, mich einfach so in der Gasse sitzen zu lassen.“

„Hör mal“, erwiderte Enathan genervt, „ich weiß nicht, wer du bist oder was du von mir willst. Ich weiß ja nicht mal, was in den letzten Stunden passiert ist.“

„Du meinst das ernst?“, fragte sie und sah ihn forschend an.

„Ja!“

„Nach der Aktion läufst du einfach weg und hast keine Ahnung mehr, was du gemacht hast? Nicht schlecht.“

„Sag ich doch“, brummte er und wandte sich dem vollen Glas vor ihm zu. Aus den Lautsprechern kreischte gerade etwas, das entfernt an Gesang erinnerte und mit schnellen Bassrhythmen wetteiferte, als wollte jemand seinen verzweifelten Anteil zur Situation beitragen. Rosie setzte sich auf einen Hocker neben ihn und gemeinsam starrten sie vor sich hin.

Nach einer Weile konnte Enathan das aufdringliche Schweigen nicht mehr ertragen und da Rosie offenbar nicht die Absicht hatte, wieder zu gehen, wandte er sich an sie. „Okay, welche Aktion? Was ist passiert? Du scheinst ja offenbar besser Bescheid zu wissen als ich.“

Rosies Gesicht hellte sich auf, als hätte sie nur darauf gewartet. Sie holte tief Luft und begann zu erzählen. „Also ich weiß nicht genau, wie du zu uns gekommen bist, aber du bist ja einer von den Neuen. Zumindest hat mir Johnny gesagt, dass du einer von den Neuen bist. Johnny, mein großer Bruder“, ergänzte sie auf Enathans verständnislosen Blicks hin. „Jedenfalls müssen alle Neuen irgend einen blöden Test bestehen, bevor sie wirklich dazu gehören. Hat Johnny sich ausgedacht. Er steht auf solche Spielchen und macht sich einen Spaß daraus, andere zu verarschen. Naja, Jungs halt. Es traut sich ja auch keiner was gegen ihn zu sagen. Außer Crack vielleicht.

Jedenfalls darf ich bei sowas nie dabei sein, weil ich noch zu jung bin, meint Johnny, aber ich hab mich trotzdem rein geschummelt und heimlich zugesehen. Ihr beide, also du und Johnny, seit da wegen irgendwas in Streit geraten und habt euch ziemlich angeschrien. Und dann ist es passiert. Er stand plötzlich einfach nur so da, begann zu zittern und bekam Nasenbluten. Darauf hin ist er umgefallen, ohne dass du ihn berührt hast.“

Enathan starrte sie ausdruckslos an, als würde sie von einer ihm völlig unbekannten Person erzählen.

„Du bist einfach weggerannt“, fuhr sie fort, „und ich dir hinterher. Hast mich neugierig gemacht. In der Gasse hab ich dich dann eingeholt.“

„Tut mir leid, das mit deinem Bruder. Das wollte ich nicht“, sagte er, obwohl er sich noch keinen Reim auf das Erzählte machen konnte.

„Schon in Ordnung, ich kann Johnny nicht ausstehen. Er kommandiert mich auch immer herum und ist gemein zu mir. Da schadet ihm eine Abreibung mal nicht. Und verrätst du mir jetzt, wie du das gemacht hast?“

„Ich weiß es nicht, ehrlich. Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste. Aber ich kann mit deiner Geschichte noch nicht mal was anfangen.“

„Du bist ja komisch“, meinte sie enttäuscht. „Bist du auf irgendwelchen Drogen oder was?“

„Nein, bin ich nicht!“ Aber wirklich sicher war er sich auch hier nicht. Er blickte verzweifelt zu dem noch immer gefüllten Glas, das vor ihm auf der Theke stand. „Wo genau war ich eigentlich einer von den Neuen? Was macht Johnny?“

„Na bei Johnny und seinen Biker-Freunden. Bei den Red Panthers.“

Die Red Panthers, schoss es Enathan in den Kopf. Die coolste Hoverbike-Gang in der Stadt. Jeder wollte dort dabei sein. Zumindest jeder, der ein Hoverbike hatte und sich für richtig hart hielt. So wie Enathan. Er konnte sich wage erinnern, dass er vor einiger Zeit ein paar von ihnen kennen lernte und sie ihn in ihr Headquarter mitnahmen, eine alte verlassene Werkshalle am Ostufer der Mur, des Flusses, der durch Graz floss. War da auch Johnny dabei gewesen? Der wirre Nebel in seinem Kopf konnte ihm darauf keine Antwort geben.

„Okay, dann lass ich dich mal wieder allein“, unterbrach sie seine Überlegungen. „Aber hat mich gefreut, mit dir zu plaudern. Vielleicht sieht man sich ja wieder.“ Sie stand auf und wollte schon zur Tür gehen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Ich bin sonst öfter im Sunshine Café, unten im Park Tower. Falls dir deine Geschichte wieder einfällt und du sie unbedingt jemandem erzählen willst.“ Sie zwinkerte ihm zu und eilte davon.

Enathan sah ihr wortlos nach. Es wird wirklich Zeit, dass dieser seltsame Tag zu Ende geht, dachte er sich erschöpft und begrub sein Gesicht in seinen Händen.

 

Am nächsten Tag saß Enathan am Schlossberg, einem kleinen, steil ansteigenden Hügel mitten in der Stadt, und lehnte sich an den Sockel einer bronzenen Löwenstatue. Eine kaum noch lesbare Inschrift erzählte etwas über einen Feldherren und Ereignisse, die viele Jahrhunderte in der Vergangenheit lagen. Wie viele andere Bauwerke auf dem Hügel und in der Altstadt selbst zeugte diese Statue von einer bewegten Geschichte, die jetzt kaum noch jemanden interessierte. Was auch immer einmal der Zweck dieses Schlossbergs war, heute waren auf ihm nur noch die Kommunikationsrelais und Radarstationen für den Raumhafen am Rande der Stadt von Bedeutung.

Sein Blick streifte über die Dächer der Altstadt, als er vor sich hin grübelte. Die alten Gebäude, teils von Stahlkonstruktionen gestützt oder durch neuere Anbauten erweitert, teils auch dem Verfall preisgegeben, umflossen den Hügel wie ein Meer aus Stein und Stahl. Einst war der Stadtkern sicher ein schöner Ort und von historischer Bedeutung gewesen, doch von diesem Glanz war nicht mehr viel übrig. Dafür glitzerten in der Ferne die Glasfassaden der modernen Hochhäuser, die hunderte Meter in den Himmel ragten und wie Bienenstöcke gleichermaßen Arbeitsplatz und Wohnort für unzählige Menschen boten. Sie bildeten einen breiten Gürtel um Graz, als wollten sie das schäbige Stadtzentrum vor den Augen Fremder verbergen. Zwischen diesen Türmen bewegten sich bunte Punkte hin und her, Hovercars und kleine Gleiter, welche die Häuser wie Bienen umschwärmten. Hinter dieser Wand aus Modernität und Reichtum lag im Südwesten der Stadt der Raumhafen. Auch wenn es nur ein kleinerer Frachthafen für den nahen Styrian Agriculture Complex war, zog es Enathans Sehnsucht immer wieder an diesen Ort. Er hatte ihn bis jetzt nur von außen gesehen, doch seit er das erste Mal ein Raumschiff von dort starten sah, war es sein sehnlichster Wunsch, eines Tages Raumpilot zu werden, diese Stadt und sein Leben in ihr hinter sich zu lassen. Aber statt einem eigenen Raumschiff mit einer Crew unter seinem Kommando hatte er nur sein altes, rostiges SpeedTec-3000-Hoverbike, das mit seiner zerkratzten, roten Lackierung neben ihm stand und schon bessere Tage gesehen hatte. Statt Reisen zu neuen Kolonien auf fremden Planeten, wie er es sich oft vorstellte, hatte er nur einen schlecht bezahlten Job als Botenjunge, brachte Päckchen von einem Glasturm zum anderen, kaum von den Menschen dort wahrgenommen. Eines Tages, dachte er wehmütig, eines Tages werde ich auch von dort abheben und zu den Sternen fliegen.


Als sich eine Wolke vor die spätsommerliche Sonne schob, wurde er aus seinen Träumereien gerissen. Er hatte im Moment dringendere Probleme, als von Abenteuern auf fremden Welten zu phantasieren. Die gestrigen Ereignisse sickerten langsam in sein Bewusstsein zurück und füllten, von Rosies Geschichte unterstützt, die Lücken in seinem Gedächtnis. Wie alle Hoverbiker, die etwas auf sich hielten, wollte auch er zur coolsten Gang der Stadt gehören – zu den Red Panthers. Und tatsächlich hatte er es geschafft, aufgenommen zu werden. Zumindest so gut wie – denn wer wirklich dazu gehören wollte, musste erst die Aufnahmeprüfung über sich ergehen lassen. Irgendein pubertäres Männlichkeitsritual, dachte er sich, mehr zur Unterhaltung der alten Hasen, als um irgendwelche Qualitäten zu beweisen. Doch was war seine Aufgabe gewesen? Er konnte sich erinnern, wie er mit Johnny, dem Anführer der Gang und offenbar Rosies Bruder, und Crack, einem durchgeknallten Junkie und der rechten Hand Johnnys, über diese Aufgabe in Streit geraten war. Er hatte das dringende Gefühl, dass er diese Aufgabe nicht ausführen konnte, ja viel mehr ihre Ausführung sogar verhindern musste. Und warum war der gestrige Tag und seine Ereignisse wie hinter einem dichten Nebel verborgen, der nur Stück für Stück Teile des Geschehens preisgab?

Er blickte wieder über die Stadt zum Raumhafen und sah einem Frachter zu, wie dieser langsam in den Himmel aufstieg und bald hinter einer Wolke verschwand. Der Lärm der Stadt verschluckte jegliches Geräusch, dass das Raumschiff bei seinem Flug verursachte.

„Der Raumhafen!“, platze es plötzlich aus ihm heraus, als ihn die Erkenntnis wie eine Welle überrollte. Es war nicht bloß eine Mutprobe, die er zur Belustigung von ein paar halbstarken Gangern auszuführen hatte. Johnny hatte ganz andere Pläne. Und er musste aufgehalten werden!

Enathan sprang auf sein altes Bike, startete es nach mehreren Versuchen und raste hinunter in die Stadt. Er musste Rosie finden und ihr erzählen, was ihr Bruder wirklich vor hatte.

 

Rosie saß gerade, wie jeden Sonntag Nachmittag, mit Freundinnen in ihrem Lieblingscafé im Erdgeschoß des Park Towers, als Enathan herein stürmte und sie mit einem „Ich muss mit dir reden!“ zur Tür hinaus zerrte. Mit hochrotem Kopf und unter allgemeinem Gekicher folgte sie ihm widerwillig.

„Ich weiß, was Johnny vorhat!“, redete er auf sie ein, als sie draußen vor der Tür standen.

„Was meinst du?“, fragte sie übertrieben gequält und schnitt eine Grimasse in Richtung ihrer Freundinnen, die wie aufgefädelt an den großen Fensterscheiben klebten und die Szene mit Eulenaugen höchst amüsiert beobachteten. Enathan zog Rosie weiter weg, um dem Blickfeld ihrer aufmerksamen Begleiterinnen zu entkommen.

„Ich weiß wieder, welche Mutprobe ich machen sollte. Ich kann mich wieder an alles erinnern!“

„Schön für dich“, sagte sie, nach wie vor genervt über diese plötzliche Störung. „Und deshalb machst du hier so ein Theater? Gestern wolltest du noch kaum reden mit mir“, fügte sie trotzig hinzu. Sie hatte sich mit ihrer Anmerkung am Tag zuvor zwar erhofft, ihn wieder zu sehen, doch dieser peinliche Auftritt vor allen Leuten war dann doch nicht ganz ihn ihrem Sinn.

„Hör mal, ich wäre nicht hier, wenn es nicht wichtig wäre. Dein Bruder Johnny und dieser durchgeknallte Crack planen einen Anschlag. Und mich wollten sie los schicken, um den Scheiß auszuführen.“

Für einen Moment starrte sie ihn fassungslos an, dann lachte sie laut los. „Was redest du für einen Unsinn? Johnny macht immer eine Menge schräger Sachen – okay, er ist ein Arsch“, räumte sie ein, „doch er würde nie einen Anschlag auf jemanden begehen.“

„Nicht auf jemanden, auf den Raumhafen.“

„Das glaub' ich nicht, warum sollte er das tun? Du bist da oben immer noch nicht ganz richtig, oder?“ Sie tippte mit dem Finger auf ihre Schläfe, um die Frage zu unterstreichen.

„Du musst mir glauben! Er und Crack gehören zu diesen Fanatikern. Du weißt schon, diese Traditionalisten, die meinen, Raumfahrt und Fortschritt sei schlecht für die Menschen und muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Kannst du dich noch an die Schießerei vor ein paar Monaten im Einkaufszentrum erinnern? Das waren genau diese Typen.“

„Woher weißt du das alles? Und was hast du überhaupt damit zu tun?“, fragte sie noch immer ungläubig.

„Du weißt ja, ich bin der Neue. Ich will schon die ganze Zeit Mitglied bei seiner bescheuerten Gang werden und da dachte er sich wohl, den Neuen kann er doch mal für die Drecksarbeit vorschicken. Ich sollte mit Crack rüber zum Raumhafen fahren und Sprengsätze platzieren. An irgendwelchen Tanks.“

„Sprengsätze?“

„Wenn ich es doch sage! Ich glaube, ich weiß sogar, wo er sie lagert. Unter der alten Werkshalle, wo ihr immer abhängt, gibt es doch diesen versperrten Keller.“

„Für den Keller hat aber niemand den Schlüssel. Außerdem darf dort niemand hin, sagt Johnny. Ist zu gefährlich.“

„Klar sagt er das. Ich bin mir aber sicher, dass er dort sein ganzes Zeug lagert.“

„Ich weiß nicht...“

Rosie konnte es noch immer nicht glauben, aber ein Gefühl sagte ihr, dass an dieser Geschichte etwas dran war. Sie hatte Johnny und Crack, den sie noch weniger ausstehen konnte als ihren Bruder, immer wieder beobachtet, wie sie ernst miteinander flüsterten und sofort damit aufhörten, wenn jemand in die Nähe kam. Wie sie immer wieder für ein paar Tage verschwanden und keiner wusste, wo sie waren – oder zumindest ihr nichts sagen wollte. Waren vielleicht die ganzen Red Panthers darin verwickelt? Nein, das konnte sie nicht glauben. Das waren halbstarke Jungs, die sich für harte Biker hielten, aber beim ersten Anzeichen von richtigem Ärger auf und davon waren. Und die Mädels schon gar nicht. Die Meisten von ihnen konnte sie zwar ebenso wenig ausstehen, aber zu sowas wie einen Anschlag waren sie nicht fähig. Aufgetakelte Tussis und Begleiterscheinungen der Möchtegern-Ganger, dachte sie sich. Vielleicht waren die Panthers für Johnny nur eine gute Möglichkeit, neue Leute für seine Sache zu rekrutieren. Neue Leute wie Enathan. Sie sah ihn unentschlossen an. Irgendwie mochte sie ihn, er war anders, als die meisten Jungs in der Gang. Irgendwie erwachsener.

„Und deshalb hast du dich mit Johnny gestritten?“, fragte sie und hatte sich entschlossen, ihm zu glauben.

„Ja. Ich war so wütend, als ich erfahren habe, was er von mir verlangt. Weißt du, ich mag den Raumhafen. Oft sehe ich den Raumschiffen zu, wie sie starten und landen, und stelle mir vor, ich wäre auch Captain auf so einem Schiff und würde zu anderen Welten fliegen. Solche kranken Typen wie dein Bruder wollen das alles zerstören und Unschuldige verletzen oder ermorden, weil sie irgendwelchen dummen Ideologien nachlaufen.“

„Was willst du jetzt tun?“

„Wir müssen ihn aufhalten, Rosie. Was er vor hat, darf nicht passieren!“

Rosie nickte und versuchte das alles zu begreifen. Ihr Bruder war vielleicht ein Attentäter und sie hatte offenbar nichts davon gemerkt, stellte sie entsetzt fest.

„Wir müssen zur Polizei gehen“, schlug sie vor.

„Nein, das bringt nichts“, wehrte Enathan ab. „Wer soll uns schon glauben. Die schreiben bestenfalls eine Aktennotiz und kümmern sich nicht weiter darum. Außerdem bin ich bei den Bullen nicht so beliebt, hatte da schon ein paar mal Ärger“, fügte er hinzu. „Ich glaube, was Johnny vorhat, wird in den nächsten Tagen passieren. Vielleicht schon morgen. Wir müssen selbst etwas tun.“

Beide standen schweigend da und grübelten vor sich hin, ignoriert von den Menschen, die an ihnen vorbei gingen. Zwei Jugendliche mit ihren Problemen, nichts was jemanden wirklich interessierte. Ein scheinbar herrenloser Hund beschnüffelte sie kurz und trottete dann ebenfalls unbeeindruckt weiter. Diese Sache mussten die beiden ganz allein durchstehen.

„Okay“, unterbrach Enathan die Stille, „wir müssen in das Headquarter der Red Panthers einbrechen und diese Sprengsätze klauen. Und wir müssen das heute Nacht tun.“

„Wir beide, ganz allein?“, zweifelte Rosie.

„Ich rufe ein paar Kumpels an“, erwiderte er, als würde das alle Probleme lösen. „Kennst du den kleinen Park, ein paar Gassen von eurem Headquarter entfernt? Dort treffen wir uns heute Nacht, sagen wir um Mitternacht.“

Rosie war alles andere als begeistert, besonders da sie ungewollt in diese Sache hinein gezogen wurde. Aber sie sah ebenfalls ein, dass etwas getan werden musste. Langsam nickte sie, mehr um sich selbst zu überzeugen.

 

Der geschäftige Ring um Graz war in der Nacht hell erleuchtet und kam nie wirklich zur Ruhe. Die hohen Gebäude strahlten in allen Farben, als gäbe es Nacht für Nacht einen Wettstreit um das hellste Kunstwerk. Großflächige Leuchtreklamen auf den Fassaden priesen in bewegten Bildern die Produkte des rastlosen Treibens an, manifestierten die Wünsche und Träume der Bewohner der Stadt, oder zeigten ihnen vor, welche Wünsche und Träume gerade der aktuellen Mode entsprachen. Zwischen diesen erleuchteten Monumenten schwirrten kleine bunte Lichter, am Boden und in der Luft, und gaben dem Bild eine fast psychedelische Note.

Der Treffpunkt, den Enathan ausgewählt hatte, war so ziemlich das Gegenteil davon. Zweifellos eine der dunkelsten und stillsten Gegenden der Stadt, waren hier hauptsächlich Lagerhallen und großteils verlassene Industriegebäude. Wenn schon am Tag hier nicht viel los war, weil auch die letzten Firmen ihre Geschäfte in den Rand der Stadt verlegt hatten, war dieser Ort in der Nacht der ideale Unterschlupf für allerlei zwielichtige Gestalten und Spielwiese für verschiedene Banden abseits jeglicher Legalität – der ideale Platz für eine Gang wie die Red Panthers.

Nur zwei seiner Freunde waren seinem Aufruf gefolgt. Rainbow saß auf der Lehne einer halb verwitterten Parkbank und spielte unruhig mit einem Klappmesser herum, während sie Enathans Ausführungen zuhörte. Ihren Spitznamen verdankte sie den bunten Haarsträhnen auf ihrem sonst glatt rasierten Kopf, die jetzt unter der Kapuze ihrer Jacke hervor lugten. Eddies dunkle Locken dagegen waren ein harter Kontrast dazu und bildeten fast so etwas wie ein Nest auf seinem Kopf. Und wenn es ein schäbigeres Hoverbike gab, als das von Enathan, dann war das wohl Eddies Inazuma-5X, an das er sich gerade lehnte. Rosie stand schweigsam und ein wenig schüchtern daneben.

„Und deshalb brauche ich eure Hilfe. Wir müssen in das Headquarter der Red Panthers einbrechen und diese Bomben wegbringen“, endete Enathan seine Geschichte und blickte erwartungsvoll in die Runde.

Rainbow starrte ihn weiter an, als würde sie auf die Pointe warten, auf die Auflösung, dass alles nur Spaß war.

„Du bist völlig wahnsinnig“, unterbrach Eddie das Schweigen. „Seit Monaten liegst du mir mit dieser Biker-Gang in den Ohren, dass sie die härtesten Typen sind und du unbedingt dazu gehören willst. Und dann kommst du mit dieser Geschichte und verlangst von uns, dass wir dir helfen, dort einzubrechen und sie zu beklauen. Die machen uns fertig, ist dir das klar?“

„Ich weiß ja, wie das alles klingt. Aber wir müssen etwas tun. Wir dürfen nicht zulassen, dass Johnny seinen Plan ausführt.“

„Ach ja, und da hast du dir gedacht, legen wir uns mal schnell mit ein paar durchgeknallten Terroristen an und retten die Welt. Ich meine, das ist was anderes, als irgendwo ein Bike zu klauen.“

„Enathan hat recht“, unterbrach ihn Rosie. „Ich habe die Geschichte zuerst auch nicht geglaubt. Aber ich kenne Johnny, er ist zu sowas fähig und wenn da wirklich irgendwelche Sprengsätze lagern, müssen wir sie verschwinden lassen.“

Rainbow nickte. „Krasse Story. Aber ich glaub dir, Eth.“ Sie klappte ihr Messer zusammen und ließ es in einer der vielen Hosentaschen verschwinden. „Wenn du meinst, du musst das tun, dann bin ich dabei.“

„Na toll, sind sich ja wieder alle einig“, versuchte Eddie ein letztes Aufbegehren.

„Hör mal, du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Aber ohne euch schaffe ich das nicht“, antwortete ihm Enathan.

„Ja ja, als hätte ich dich jemals im Stich gelassen. Ach was soll's, ich bin auch dabei. Aber wie hast du dir das vorgestellt? Wir marschieren dort einfach rein und legen uns mit den Typen an?“

„Ich glaube nicht, dass wir uns mit irgendwem anlegen müssen“, meinte Rosie. „Die Jungs waren in den letzten Nächten oft außerhalb der Stadt, Wettrennen mit irgendwelchen anderen Gangs. Wenn wir Glück haben, ist gar niemand dort.“

„Wenn wir Glück haben“, wiederholte Eddie und griff nach einem Baseballschläger, der seitlich an seinem Bike befestigt war. „Aber ich verlass mich lieber nicht darauf.“

„Wir haben doch immer Glück. Irgendwie“, meinte Rainbow sarkastisch. „Also worauf warten wir noch?“

Und so waren sie sich einig.


 

Als sie wenig später beim Headquarter der Red Panthers ankamen, schien das Glück tatsächlich auf ihrer Seite zu sein. Die alte Werkshalle, die schon einige Jahrhunderte hinter sich hatte, stand verlassen da. Kein Licht war in den Fenstern zu sehen, keine Bikes standen davor. Nichts, was auf die Anwesenheit der Ganger hinweisen würde.

Sie entschieden sich, an den großen Toren auf der Stirnseite des Gebäudes vorbei zu gehen – da es zu auffällig gewesen wäre, wenn sie eines davon öffneten – und erreichten eine kleine Seitentür. Das Licht der wenigen Straßenlaternen in dieser Gegend reichte kaum bis dorthin und so war es ein guter Ort für ein unauffälliges Eindringen.

Die Tür war verschlossen und so machte sich Eddie gleich daran, dies zu ändern. Wenn er etwas besser konnte, als alte und längst schrottreife Hoverbikes zu reparieren, dann war es das Knacken von Schlössern. Meist nur, um die Bikes von anderen zu klauen, aber eine einfache Tür stellte ihn auch nicht vor eine große Herausforderung.

Im Inneren der Halle war es genauso ruhig, wie es von außen ausgesehen hatte. Die Panthers waren tatsächlich ausgeritten. Da Rosie sich am besten auskannte, ging sie voraus und führte die Gruppe in Richtung Keller. Im schwachen Licht, das von außen durch die hoch oben in der Hallenwand gelegenen Fenster eindrang, konnte man wage die Umrisse von alten, halb abgebauten Maschinenteilen erkennen. Sie mussten vorsichtig gehen, um nicht versehentlich gegen irgendetwas zu treten und damit unnötigen Lärm zu verursachen. Am anderen Ende der Halle standen ein paar Tische mit verschiedenem Werkzeug und Bauteilen darauf. Das war der Ort, wo die Panthers an ihren Bikes schraubten, sie reparierten oder verschiedene, wohl zumeist illegale Modifikationen vornahmen.

Rosie führte sie weiter in einen anderen Raum, der noch dunkler war. Enathan holte eine Taschenlampe aus seiner Jacke und schaltete sie ein. Im Licht der Lampe sahen sie einige abgenutzte Sofas und Sessel, die um zwei Tische standen. An der gegenüber liegenden Wand surrte ein Kühlschrank leise vor sich hin, die Luft war abgestanden und roch nach Bier. Neben dem Kühlschrank hing ein altes Wappen, ein rostiger Metallschild, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Darauf war ein Fabelwesen zu sehen, das ein auf den Hinterbeinen stehendes Raubtier darstellte. Die Klauen wie zum Angriff nach vor gestreckt und den buschigen Schwanz aufgerichtet, kamen dem Tier Flammen aus dem Maul und anderen Körperöffnungen. Eine Krone ruhte auf seinem Kopf. Welche Farbe die Figur auch einst einmal hatte, jetzt war sie recht grob mit roter Farbe übermalt.

„Ein Panther“, erklärte Rosie, als die Gruppe fragend vor dem Bildnis stand, und ihre Stimme durchschnitt die Stille im Raum. „Daher haben die Red Panthers ihren Namen.“

„Ist ja richtig gemütlich hier“, meinte Rainbow abfällig.

„Seid leise“, ermahnte sie Enathan flüsternd. „Zum Keller ist es nicht mehr weit.“

Als sie nach ein paar weiteren Räumen und am Ende einer kleinen Stiege an der Tür zu besagtem Keller ankamen, machte sich Eddie gleich daran, diese zu öffnen. Das Schloss stellte sich als schwieriger heraus, doch nach paar Versuchen, begleitet von einigem Fluchen, war der Eingang zum Keller offen. Sie betraten ihn und Enathan leuchtete mit seiner Lampe umher. Der Raum war nicht sehr groß, kleiner als er erwartet hatte. An den Wänden standen Regale, gefüllt mit allerlei Gerümpel, alten Ersatzteilen und technischen Instrumenten, die wohl noch aus der Zeit stammten, als die Werkshalle ihrem ursprünglichen Zweck diente. Doch nichts, was man als Sprengsatz gebrauchen konnte.

„Eth, wo sind jetzt deine Bomben? Hier ist nur ein Haufen wertloses Zeug“, sprach Rainbow die Frage aus, die sich alle bereits dachten.

Bevor Enathan antworten konnte, zuckte er zusammen, als es plötzlich taghell im Raum wurde. Er hielt sich eine Hand über die Augen und blinzelte zur Tür. Dort stand er, Johnny, mit einer Hand am Lichtschalter und einer Pistole in der anderen, die er auf die Gruppe richtete. Sein kahl rasierter Schädel glänzte im harten Licht der Kellerlampe, seine Augen funkelten Enathan wütend an, aber er wirkte nicht überrascht.

„Na wen haben wir denn hier?“ Seine Frage klang mehr wie eine Drohung. „Der Frischling kommt zum Spielen vorbei und hat ein paar Freunde mitgebracht. Und auch meine kleine, nutzlose Schwester ist dabei.“

Die vier Eindringlinge starrten ihn entsetzt an. Rosie begann zu zittern.

„Johnny, bitte...“, versuchte sie ihren Bruder zu beruhigen.

„Halts Maul!“, schrie er sie an. „Mit dir befasse ich mich später. Zuerst wollen wir uns um unsere Gäste kümmern. Was wollt ihr Amateure hier?“

„Wir wissen, was ihr vorhabt, du und Crack. Und wir werden euch aufhalten!“, ergriff Enathan das Wort.

„Ach, werdet ihr das? Wie habt ihr euch das vorgestellt? Mal schnell hier einbrechen und unser Zeug klauen? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir nach deiner Aktion gestern noch beim alten Plan geblieben sind.“

Die Gedanken rasten in Enathans Kopf. Natürlich hätte er das voraus sehen müssen. Nach ihrem gestrigen Streit war Enathan nicht mehr vertrauenswürdig. Bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen, gewissermaßen. Aber er wusste genug, um den Plan zu gefährden. Deshalb war es klar, dass Johnny den Plan ändern würde. Verdammt dummer Fehler, dachte sich Enathan. Die Sprengsätze waren offensichtlich nicht mehr hier, doch wo waren sie?

„Crack!“, schoss es aus ihm heraus. „Crack ist schon unterwegs zum Raumhafen!“

„Scharf erkannt, Kleiner.“ Johnny grinste. „Nur schade, dass ihr das Feuerwerk nicht miterleben werdet. Oder habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt hier einfach wieder so raus spazieren?“

„Warte, wir können doch darüber reden“, versuchte Enathan die Situation zu entschärfen. Doch Johnny schüttelte nur den Kopf.

„Reden? Hier wird nicht mehr geredet. Die Red Panthers haben sich entschieden, dass sie dich nicht aufnehmen wollen. Wir brauchen keine Verlierer mit abgewrackten Bikes, die sich nicht an die Regeln halten.“

„Dir ging es nie um die Panthers. Du suchst hier doch nur Leute, die dumm genug sind, für dich die Drecksarbeit zu machen.“

„Du hast keine Ahnung, Kleiner. Aber egal, ich werde meine Zeit hier nicht mehr länger mit euch Clowns verschwenden.“ Er deutete mit seiner Pistole auf die Gruppe. „Runter auf die Knie und last euer Zeug fallen!“

„Das war's dann wohl mit unserem Glück“, meinte Eddie sardonisch und warf Rainbow einen Blick zu, während er den Baseballschläger in seiner Hand fester umschloss. Rainbow griff nach ihrem Messer.

Wie auf ein Kommando stürmten beide vor und sprangen Johnny an. Doch dieser hatte so einen Angriff erwartet und richtete die Pistole sofort auf Eddie. Ein Schuss knallte durch den Raum und hallte von den Wänden wieder. Eddie stolperte und fiel Johnny zu Füßen auf den Boden, nur ein röchelndes Husten war noch von ihm zu hören. Rainbow hatte Johnny erreicht und attackierte ihn mit Stichen, Schlägen und Tritten – mehr in blinder Wut, als irgendeinem Plan folgend. Endlich überwand auch Enathan seine Schrecksekunde und beteiligte sich an der wilden Balgerei. Rosie dagegen blieb stehen und schrie panisch.

Bald rollten sie sich am Boden, ineinander verkeilt wie streitende Katzen. Rainbow versuchte immer wieder, Johnny mit der Klinge in ihrer Hand zu erreichen, während dieser wiederum seine Pistole auf einen der Angreifer richten wollte. Enathan klammerte sich an Johnnys Arm und versuchte genau das zu verhindern. Nach schier endlosen Momenten der Keilerei, des Geschreis und der wilden Beschimpfungen durchbrach ein weiterer Schuss die Szene. Johnny starrte Enathan für eine Sekunde an. Er wollte etwas sagen, doch brachte er nur ein ersticktes Glucksen hervor und brach dann zusammen. Eine dünne Blutspur rann ihm aus dem Mund. Angewidert ließ Enathan Johnnys Arm los, den er ihm mit der Waffe in der Hand zur Brust gedreht hatte. Er setzte sich nach Atem ringend auf und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war.

„Eddie!“ Rainbow eilte zu ihrem Kumpel, der ein paar Schritte entfernt blutüberströmt am Boden lag.

„Scheiße, das war ja echt eine super Idee.“ Eddie versuchte sich aufzurichten und zuckte unter den Schmerzen zusammen, die ihn wieder zu Boden warfen. „Der Arsch hat mir in die Schulter geschossen.“

„Glück gehabt, dass der Typ nicht besser schießen konnte“, versuchte sie vergeblich, ihn aufzumuntern.

„Glück? Du immer mit deinem Glück! Darüber sollten wir echt mal reden.“

Rainbow wandte sich an Enathan. „Wir kümmern uns um Eddie. Du musst diesen Crack aufhalten, sonst war der ganze Mist hier umsonst.“

Enathan nickte, blieb aber ratlos am Boden sitzen.

„Jetzt, Eth! Nimm dein scheiß Bike, fahr zum scheiß Raumhafen und mach den Typ fertig!“, schrie Rainbow ihn an.

„Ja, okay“, antwortete Enathan, endlich aus seiner Schockstarre gerissen. Er stand auf und sah sich im Raum um. Rainbow drückte mit einem Stück Stoff auf Eddies Wunde, während dieser sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzog. Rosie stand noch immer wie angewurzelte da, Tränen rannen ihr aus den Augen und sie zitterte am ganzen Körper. Enathan wollte noch etwas sagen, irgendetwas, das sie aufmunterte. Aber er entschied sich dagegen. Wortlos nahm er Johnnys Pistole und eilte die Treppe hinauf.

 

Enathans Hoverbike raste über die breite Straße, die von der Stadt zum Raumhafen führte. Die Straßenbeleuchtung blitzte in einem schnellen Rhythmus an ihm vorüber. Mit jedem Meter, den er zwischen sich und dem hellen Treiben der Stadt ließ, welches den Ort des Geschehens unter einem Mantel aus Licht und Lärm versteckte, klärten sich auch seine Gedanken. Er hatte Johnny umgebracht. Erschossen, ermordet. Es war Notwehr, dachte er sich schnell, natürlich war es Notwehr. Es wurde ihm immer mehr bewusst, welches Glück sie hatten und wie dumm er war zu glauben, sein Plan könnte funktionieren. Er hatte seine Freunde in diese Sache hinein gezogen und jetzt lag sein bester Kumpel Eddie niedergeschossen am Boden in diesem verdammten Keller. Sie hatten gemeinsam ja schon viel Unsinn angestellt und waren auch schon das eine oder andere Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, diese Nacht aber schlug definitiv ein neues Kapitel auf. Doch dieser Weg musste nun bis zum bitteren Ende gegangen werden. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Vor sich sah er die Lichter des Raumhafens, die schnell näher kamen. Zu dieser Nachtzeit waren nur wenige andere Fahrzeuge auf der Straße unterwegs und so kam er schnell voran. Das eigentliche Problem war es aber, Crack zu finden. Er dachte darüber nach, wo der Anschlag statt finden sollte. Johnny hat ihm natürlich nicht alle Details verraten, er wusste nur soviel, dass es um irgendwelche Treibstofftanks ging. Der ursprüngliche Plan sah ja vor, dass er es mit Crack zusammen ausführen sollte. Crack wusste sicher alle Details, Enathan dagegen war nur als Handlanger eingeplant gewesen, als derjenige, der sich die Hände schmutzig machen durfte und – falls etwas schief lief – als Kanonenfutter vorgeschickt werden sollte. Wie naiv er doch war. Ab jetzt keine Gangs mehr, egal wie cool sie auch zu sein scheinen, schwor er sich.


Als er kurz vor dem Raumhafen war, sah er die ersten Wegweiser und Hinweisschilder vor sich. Passagiere, Personal und Lieferanten – alle wurden ihrem Ziel entsprechend schon in den richtigen Teil des Raumhafens gelotst. Ein Wegweiser fiel ihm auf: Spaceport Fuel Support. Hier wurde der Treibstoff für die Raumschiffe gelagert. Ohne zu zögern bog er ab, folgte den Hinweisschildern und überlegte sich, wie er auf dem riesigen Gelände überhaupt jemanden finden sollte. Seine Überlegungen kamen allerdings schnell zu einem Ende, als er am Straßenrand ein einsames Hoverbike stehen sah. Das muss Crack sein, dachte sich Enathan. Er stellte sein Bike etwas abseits ab und beobachtete die Gegend. Es war weit und breit niemand zu sehen und abgesehen von den Geräuschen der Stadt, die in der Ferne zu hören waren, war es fast völlig ruhig. Am Raumhafen selbst war zu dieser Zeit nicht viel los. Crack musste also schon mit den Sprengsätze zu seinem Ziel unterwegs sein.

Enathan ließ die Straße hinter sich und ging, so leise er konnte, in Richtung der großen Tanks, die hell erleuchtet in einiger Entfernung zu sehen waren. Große, zylindrische Türme, jeder etwa zwanzig Meter hoch, reihten sich aneinander. Gut platzierte Bomben konnten hier immensen Schaden anrichten und würden den Raumhafen für längere Zeit außer Betrieb setzen.

Nach einer Weile kam er zu einem hohen Zaun, der den Beginn des Sicherheitsbereichs markierte. Es war dunkel hier, die nächsten Scheinwerfer und Wachposten waren etwas weiter weg. Der ideale Ort für einen Einbruch. Tatsächlich brauchte er auch nicht lange suchen, um eine Gestalt auszumachen, die sich gerade am Zaun zu schaffen machte. Das musste Crack sein! Er hockte mit dem Rücken zu ihm am Boden und war dabei, Stück für Stück den Maschendraht durchzuschneiden. Neben ihm stand eine prall gefüllte Tasche. Enathan wusste sofort, was darin enthalten war.

Er fummelte Johnnys Pistole aus der Jackentasche und richtete sie auf die Gestalt am Zaun. „Es ist aus, Crack! Ich werde das nicht zulassen.“

Crack zuckte zusammen und hielt in seiner Bewegung inne. Dann stand er langsam auf und drehte sich zu Enathan um. Selbst in dem wenigen Licht konnte Enathan Cracks irres Grinsen sehen, das seinen kranken Charakter wie immer auf groteske Weise unterstrich. Lange fettige Haare hingen ihm ins Gesicht.

„Sieh an, sieh an, wenn das nicht unser Frischling ist.“ Seine hohe, krächzende Stimme klang, als würde jemand mit den Nägeln an einer Blechwand entlang kratzen. „Hat Johnny dich geschickt, dass du Crack helfen sollst? Nein, Johnny hat dich nicht geschickt, Crack muss immer alles alleine machen.“ Sein Blick fiel auf Enathans Hand, in der er Johnnys Pistole erkannte. Sein Grinsen erstarb. „Johnny wird niemanden mehr schicken...“

Dann blickte er Enathan direkt in die Augen, der Wahnsinn in seinem Gesicht war mit einer Endgültigkeit zurück gekehrt, die Enathan fast einen Schritt zurück machen ließ. Langsam hob Crack seine rechte Hand und offenbarte ein kleines, schwarzes Kästchen darin. Mit einem Klicken wurde ein Schalter umgelegt und ein rotes Lämpchen begann zu leuchten. Sein Daumen ruhte über einem weiteren Knopf. „Niemand wird Crack aufhalten“, lies er an seinem Vorhaben keinen Zweifel.

Enathan spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Seine Gedanken rasten und er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen Gegner aufzuhalten, ihn unschädlich zu machen, ohne dass dieser die Sprengsätze zündete. Dazu mischte sich die Wut über seine Machtlosigkeit, die Wut über die Konsequenzen, wenn Crack den Plan zu Ende brachte. Crack! Er konzentrierte seine ganze Abscheu auf diesen Menschen und sein Vorhaben. Ihre Blicke trafen sich und sie starrten sich an, schweigend, hasserfüllt, wie zwei Raubtiere kurz vor dem entscheidenden Sprung. Enathan hatte das gleiche Gefühl, wie vor zwei Tagen, beim ersten Streit mit Johnny. Seine Wut und all die Gefühle, die ihn gerade überfluteten, ballten sich zusammen und wurden fast greifbar. Manifestierten sich vor ihm und stürzten auf Crack zu, wie ein Felsen, der unaufhaltsam in einen Abgrund stürzte. Er sah nur noch Cracks wahnsinnige Augen am Ende eines Tunnels, der alles andere um ihn ausblendete. Er war ihm, als könnte er Crack mit der Hand erreichen, mit den Fingern in seinen Schädel eindringen und sein Gehirn mit diesen ganzen kranken Gedanken darin zerdrücken. Und Enathan drückte zu.

Crack stand nach wie vor regungslos da. Er begann am ganzen Körper zu zittern, seine Augen verdreht sich, sodass nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Blut rann ihm aus der Nase. Dann fiel er wie vom Schlag getroffen zu Boden und bewegte sich nicht mehr.

Ich habe es wieder getan, schoss es Enathan durch den Kopf. Das war es also, was Rosie meinte. Das war es, was seinen Streit mit Johnny damals so abrupt enden ließ und seine Erinnerung daran wie hinter einem Nebel versteckte. Doch jetzt konnte er sich daran erinnern, er wusste was er gemacht hatte. Auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er das machte.

Plötzlich hörte Enathan Stimmen in einiger Entfernung. Männer mit Taschenlampen näherten sich dem Zaun, Cracks Einbruchsversuch war entdeckt worden. Hunde bellten.

Er blickte sich schnell um. Crack lag bewusstlos am Boden und konnte sein Vorhaben nicht mehr durchführen. Die Tasche mit den Sprengsätzen neben ihm würde sicher vom nahenden Wachpersonal gefunden werden. Doch Enathan selbst sollte hier besser nicht gesehen werden und vielleicht noch als Mittäter festgenommen werden. Ohne weiter zu warten drehte er sich um und rannte zurück zu seinem Hoverbike.

 

Enathan saß wie so oft an seinem Lieblingsplatz am Schlossberg, am Sockel der bronzenen Löwenstatue. Die Spätsommersonne schickte ihre wärmenden Strahlen aus und versuchte für einen weiteren Tag, die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes zu vertreiben. Einmal mehr blickte er gedankenverloren über die Stadt hin zum Raumhafen, doch diesmal mischte sich das Gefühl dazu, etwas geschafft zu haben. Er hatte nicht nur den Anschlag auf den Raumhafen verhindert, er hatte damit auch einen Teil seines Traumes gerettet. Den Traum, eines Tages genau von diesem Raumhafen aus zu starten, in den Weltraum zu fliegen und weiter zu anderen Welten.

Rosie kuschelte sich in seine Arme und folgte seinem Blick. Für sie war er ein Held. Auch wenn bei den Ereignissen vor ein paar Tagen ihr Bruder ums Leben kam – ein Teil der Geschichte, über den sie noch nicht sprachen – wusste sie, dass es richtig war, was er getan hatte. In den Nachrichten kamen Berichte über einen missglückten Anschlag, über einen gefangen genommen Terroristen, der aus noch ungeklärten Gründen an seinem Vorhaben gescheitert war. Enathan musste schmunzeln, als er daran dachte.

Es blieb noch die Frage zurück, wie er seine Wut so sehr konzentrierte, dass er andere damit überwältigen konnte. Es war nicht nur Einbildung, er hatte Crack damit tatsächlich außer Gefecht gesetzt. Und zuvor Johnny. Aber auch das werde ich noch heraus finden, dachte er sich.

Ein Passagierschiff setzte gerade zum Landeanflug auf den Raumhafen an. Wen es wohl an Bord hatte? Und wen es wieder mitnehmen würde, auf die nächste Reise zu den Sternen? Eines Tages werde ich dabei sein, dachte sich Enathan, eines Tages...