Als er kurz vor dem Raumhafen war, sah er die ersten Wegweiser und Hinweisschilder vor sich. Passagiere, Personal und Lieferanten – alle wurden ihrem Ziel entsprechend schon in den richtigen Teil des Raumhafens gelotst. Ein Wegweiser fiel ihm auf: Spaceport Fuel Support. Hier wurde der Treibstoff für die Raumschiffe gelagert. Ohne zu zögern bog er ab, folgte den Hinweisschildern und überlegte sich, wie er auf dem riesigen Gelände überhaupt jemanden finden sollte. Seine Überlegungen kamen allerdings schnell zu einem Ende, als er am Straßenrand ein einsames Hoverbike stehen sah. Das muss Crack sein, dachte sich Enathan. Er stellte sein Bike etwas abseits ab und beobachtete die Gegend. Es war weit und breit niemand zu sehen und abgesehen von den Geräuschen der Stadt, die in der Ferne zu hören waren, war es fast völlig ruhig. Am Raumhafen selbst war zu dieser Zeit nicht viel los. Crack musste also schon mit den Sprengsätze zu seinem Ziel unterwegs sein.

Enathan ließ die Straße hinter sich und ging, so leise er konnte, in Richtung der großen Tanks, die hell erleuchtet in einiger Entfernung zu sehen waren. Große, zylindrische Türme, jeder etwa zwanzig Meter hoch, reihten sich aneinander. Gut platzierte Bomben konnten hier immensen Schaden anrichten und würden den Raumhafen für längere Zeit außer Betrieb setzen.

Nach einer Weile kam er zu einem hohen Zaun, der den Beginn des Sicherheitsbereichs markierte. Es war dunkel hier, die nächsten Scheinwerfer und Wachposten waren etwas weiter weg. Der ideale Ort für einen Einbruch. Tatsächlich brauchte er auch nicht lange suchen, um eine Gestalt auszumachen, die sich gerade am Zaun zu schaffen machte. Das musste Crack sein! Er hockte mit dem Rücken zu ihm am Boden und war dabei, Stück für Stück den Maschendraht durchzuschneiden. Neben ihm stand eine prall gefüllte Tasche. Enathan wusste sofort, was darin enthalten war.

Er fummelte Johnnys Pistole aus der Jackentasche und richtete sie auf die Gestalt am Zaun. „Es ist aus, Crack! Ich werde das nicht zulassen.“

Crack zuckte zusammen und hielt in seiner Bewegung inne. Dann stand er langsam auf und drehte sich zu Enathan um. Selbst in dem wenigen Licht konnte Enathan Cracks irres Grinsen sehen, das seinen kranken Charakter wie immer auf groteske Weise unterstrich. Lange fettige Haare hingen ihm ins Gesicht.

„Sieh an, sieh an, wenn das nicht unser Frischling ist.“ Seine hohe, krächzende Stimme klang, als würde jemand mit den Nägeln an einer Blechwand entlang kratzen. „Hat Johnny dich geschickt, dass du Crack helfen sollst? Nein, Johnny hat dich nicht geschickt, Crack muss immer alles alleine machen.“ Sein Blick fiel auf Enathans Hand, in der er Johnnys Pistole erkannte. Sein Grinsen erstarb. „Johnny wird niemanden mehr schicken...“

Dann blickte er Enathan direkt in die Augen, der Wahnsinn in seinem Gesicht war mit einer Endgültigkeit zurück gekehrt, die Enathan fast einen Schritt zurück machen ließ. Langsam hob Crack seine rechte Hand und offenbarte ein kleines, schwarzes Kästchen darin. Mit einem Klicken wurde ein Schalter umgelegt und ein rotes Lämpchen begann zu leuchten. Sein Daumen ruhte über einem weiteren Knopf. „Niemand wird Crack aufhalten“, lies er an seinem Vorhaben keinen Zweifel.

Enathan spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Seine Gedanken rasten und er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen Gegner aufzuhalten, ihn unschädlich zu machen, ohne dass dieser die Sprengsätze zündete. Dazu mischte sich die Wut über seine Machtlosigkeit, die Wut über die Konsequenzen, wenn Crack den Plan zu Ende brachte. Crack! Er konzentrierte seine ganze Abscheu auf diesen Menschen und sein Vorhaben. Ihre Blicke trafen sich und sie starrten sich an, schweigend, hasserfüllt, wie zwei Raubtiere kurz vor dem entscheidenden Sprung. Enathan hatte das gleiche Gefühl, wie vor zwei Tagen, beim ersten Streit mit Johnny. Seine Wut und all die Gefühle, die ihn gerade überfluteten, ballten sich zusammen und wurden fast greifbar. Manifestierten sich vor ihm und stürzten auf Crack zu, wie ein Felsen, der unaufhaltsam in einen Abgrund stürzte. Er sah nur noch Cracks wahnsinnige Augen am Ende eines Tunnels, der alles andere um ihn ausblendete. Er war ihm, als könnte er Crack mit der Hand erreichen, mit den Fingern in seinen Schädel eindringen und sein Gehirn mit diesen ganzen kranken Gedanken darin zerdrücken. Und Enathan drückte zu.

Crack stand nach wie vor regungslos da. Er begann am ganzen Körper zu zittern, seine Augen verdreht sich, sodass nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Blut rann ihm aus der Nase. Dann fiel er wie vom Schlag getroffen zu Boden und bewegte sich nicht mehr.

Ich habe es wieder getan, schoss es Enathan durch den Kopf. Das war es also, was Rosie meinte. Das war es, was seinen Streit mit Johnny damals so abrupt enden ließ und seine Erinnerung daran wie hinter einem Nebel versteckte. Doch jetzt konnte er sich daran erinnern, er wusste was er gemacht hatte. Auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er das machte.

Plötzlich hörte Enathan Stimmen in einiger Entfernung. Männer mit Taschenlampen näherten sich dem Zaun, Cracks Einbruchsversuch war entdeckt worden. Hunde bellten.

Er blickte sich schnell um. Crack lag bewusstlos am Boden und konnte sein Vorhaben nicht mehr durchführen. Die Tasche mit den Sprengsätzen neben ihm würde sicher vom nahenden Wachpersonal gefunden werden. Doch Enathan selbst sollte hier besser nicht gesehen werden und vielleicht noch als Mittäter festgenommen werden. Ohne weiter zu warten drehte er sich um und rannte zurück zu seinem Hoverbike.

 

Enathan saß wie so oft an seinem Lieblingsplatz am Schlossberg, am Sockel der bronzenen Löwenstatue. Die Spätsommersonne schickte ihre wärmenden Strahlen aus und versuchte für einen weiteren Tag, die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes zu vertreiben. Einmal mehr blickte er gedankenverloren über die Stadt hin zum Raumhafen, doch diesmal mischte sich das Gefühl dazu, etwas geschafft zu haben. Er hatte nicht nur den Anschlag auf den Raumhafen verhindert, er hatte damit auch einen Teil seines Traumes gerettet. Den Traum, eines Tages genau von diesem Raumhafen aus zu starten, in den Weltraum zu fliegen und weiter zu anderen Welten.

Rosie kuschelte sich in seine Arme und folgte seinem Blick. Für sie war er ein Held. Auch wenn bei den Ereignissen vor ein paar Tagen ihr Bruder ums Leben kam – ein Teil der Geschichte, über den sie noch nicht sprachen – wusste sie, dass es richtig war, was er getan hatte. In den Nachrichten kamen Berichte über einen missglückten Anschlag, über einen gefangen genommen Terroristen, der aus noch ungeklärten Gründen an seinem Vorhaben gescheitert war. Enathan musste schmunzeln, als er daran dachte.

Es blieb noch die Frage zurück, wie er seine Wut so sehr konzentrierte, dass er andere damit überwältigen konnte. Es war nicht nur Einbildung, er hatte Crack damit tatsächlich außer Gefecht gesetzt. Und zuvor Johnny. Aber auch das werde ich noch heraus finden, dachte er sich.

Ein Passagierschiff setzte gerade zum Landeanflug auf den Raumhafen an. Wen es wohl an Bord hatte? Und wen es wieder mitnehmen würde, auf die nächste Reise zu den Sternen? Eines Tages werde ich dabei sein, dachte sich Enathan, eines Tages...