Als sie wenig später beim Headquarter der Red Panthers ankamen, schien das Glück tatsächlich auf ihrer Seite zu sein. Die alte Werkshalle, die schon einige Jahrhunderte hinter sich hatte, stand verlassen da. Kein Licht war in den Fenstern zu sehen, keine Bikes standen davor. Nichts, was auf die Anwesenheit der Ganger hinweisen würde.

Sie entschieden sich, an den großen Toren auf der Stirnseite des Gebäudes vorbei zu gehen – da es zu auffällig gewesen wäre, wenn sie eines davon öffneten – und erreichten eine kleine Seitentür. Das Licht der wenigen Straßenlaternen in dieser Gegend reichte kaum bis dorthin und so war es ein guter Ort für ein unauffälliges Eindringen.

Die Tür war verschlossen und so machte sich Eddie gleich daran, dies zu ändern. Wenn er etwas besser konnte, als alte und längst schrottreife Hoverbikes zu reparieren, dann war es das Knacken von Schlössern. Meist nur, um die Bikes von anderen zu klauen, aber eine einfache Tür stellte ihn auch nicht vor eine große Herausforderung.

Im Inneren der Halle war es genauso ruhig, wie es von außen ausgesehen hatte. Die Panthers waren tatsächlich ausgeritten. Da Rosie sich am besten auskannte, ging sie voraus und führte die Gruppe in Richtung Keller. Im schwachen Licht, das von außen durch die hoch oben in der Hallenwand gelegenen Fenster eindrang, konnte man wage die Umrisse von alten, halb abgebauten Maschinenteilen erkennen. Sie mussten vorsichtig gehen, um nicht versehentlich gegen irgendetwas zu treten und damit unnötigen Lärm zu verursachen. Am anderen Ende der Halle standen ein paar Tische mit verschiedenem Werkzeug und Bauteilen darauf. Das war der Ort, wo die Panthers an ihren Bikes schraubten, sie reparierten oder verschiedene, wohl zumeist illegale Modifikationen vornahmen.

Rosie führte sie weiter in einen anderen Raum, der noch dunkler war. Enathan holte eine Taschenlampe aus seiner Jacke und schaltete sie ein. Im Licht der Lampe sahen sie einige abgenutzte Sofas und Sessel, die um zwei Tische standen. An der gegenüber liegenden Wand surrte ein Kühlschrank leise vor sich hin, die Luft war abgestanden und roch nach Bier. Neben dem Kühlschrank hing ein altes Wappen, ein rostiger Metallschild, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Darauf war ein Fabelwesen zu sehen, das ein auf den Hinterbeinen stehendes Raubtier darstellte. Die Klauen wie zum Angriff nach vor gestreckt und den buschigen Schwanz aufgerichtet, kamen dem Tier Flammen aus dem Maul und anderen Körperöffnungen. Eine Krone ruhte auf seinem Kopf. Welche Farbe die Figur auch einst einmal hatte, jetzt war sie recht grob mit roter Farbe übermalt.

„Ein Panther“, erklärte Rosie, als die Gruppe fragend vor dem Bildnis stand, und ihre Stimme durchschnitt die Stille im Raum. „Daher haben die Red Panthers ihren Namen.“

„Ist ja richtig gemütlich hier“, meinte Rainbow abfällig.

„Seid leise“, ermahnte sie Enathan flüsternd. „Zum Keller ist es nicht mehr weit.“

Als sie nach ein paar weiteren Räumen und am Ende einer kleinen Stiege an der Tür zu besagtem Keller ankamen, machte sich Eddie gleich daran, diese zu öffnen. Das Schloss stellte sich als schwieriger heraus, doch nach paar Versuchen, begleitet von einigem Fluchen, war der Eingang zum Keller offen. Sie betraten ihn und Enathan leuchtete mit seiner Lampe umher. Der Raum war nicht sehr groß, kleiner als er erwartet hatte. An den Wänden standen Regale, gefüllt mit allerlei Gerümpel, alten Ersatzteilen und technischen Instrumenten, die wohl noch aus der Zeit stammten, als die Werkshalle ihrem ursprünglichen Zweck diente. Doch nichts, was man als Sprengsatz gebrauchen konnte.

„Eth, wo sind jetzt deine Bomben? Hier ist nur ein Haufen wertloses Zeug“, sprach Rainbow die Frage aus, die sich alle bereits dachten.

Bevor Enathan antworten konnte, zuckte er zusammen, als es plötzlich taghell im Raum wurde. Er hielt sich eine Hand über die Augen und blinzelte zur Tür. Dort stand er, Johnny, mit einer Hand am Lichtschalter und einer Pistole in der anderen, die er auf die Gruppe richtete. Sein kahl rasierter Schädel glänzte im harten Licht der Kellerlampe, seine Augen funkelten Enathan wütend an, aber er wirkte nicht überrascht.

„Na wen haben wir denn hier?“ Seine Frage klang mehr wie eine Drohung. „Der Frischling kommt zum Spielen vorbei und hat ein paar Freunde mitgebracht. Und auch meine kleine, nutzlose Schwester ist dabei.“

Die vier Eindringlinge starrten ihn entsetzt an. Rosie begann zu zittern.

„Johnny, bitte...“, versuchte sie ihren Bruder zu beruhigen.

„Halts Maul!“, schrie er sie an. „Mit dir befasse ich mich später. Zuerst wollen wir uns um unsere Gäste kümmern. Was wollt ihr Amateure hier?“

„Wir wissen, was ihr vorhabt, du und Crack. Und wir werden euch aufhalten!“, ergriff Enathan das Wort.

„Ach, werdet ihr das? Wie habt ihr euch das vorgestellt? Mal schnell hier einbrechen und unser Zeug klauen? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir nach deiner Aktion gestern noch beim alten Plan geblieben sind.“

Die Gedanken rasten in Enathans Kopf. Natürlich hätte er das voraus sehen müssen. Nach ihrem gestrigen Streit war Enathan nicht mehr vertrauenswürdig. Bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen, gewissermaßen. Aber er wusste genug, um den Plan zu gefährden. Deshalb war es klar, dass Johnny den Plan ändern würde. Verdammt dummer Fehler, dachte sich Enathan. Die Sprengsätze waren offensichtlich nicht mehr hier, doch wo waren sie?

„Crack!“, schoss es aus ihm heraus. „Crack ist schon unterwegs zum Raumhafen!“

„Scharf erkannt, Kleiner.“ Johnny grinste. „Nur schade, dass ihr das Feuerwerk nicht miterleben werdet. Oder habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt hier einfach wieder so raus spazieren?“

„Warte, wir können doch darüber reden“, versuchte Enathan die Situation zu entschärfen. Doch Johnny schüttelte nur den Kopf.

„Reden? Hier wird nicht mehr geredet. Die Red Panthers haben sich entschieden, dass sie dich nicht aufnehmen wollen. Wir brauchen keine Verlierer mit abgewrackten Bikes, die sich nicht an die Regeln halten.“

„Dir ging es nie um die Panthers. Du suchst hier doch nur Leute, die dumm genug sind, für dich die Drecksarbeit zu machen.“

„Du hast keine Ahnung, Kleiner. Aber egal, ich werde meine Zeit hier nicht mehr länger mit euch Clowns verschwenden.“ Er deutete mit seiner Pistole auf die Gruppe. „Runter auf die Knie und last euer Zeug fallen!“

„Das war's dann wohl mit unserem Glück“, meinte Eddie sardonisch und warf Rainbow einen Blick zu, während er den Baseballschläger in seiner Hand fester umschloss. Rainbow griff nach ihrem Messer.

Wie auf ein Kommando stürmten beide vor und sprangen Johnny an. Doch dieser hatte so einen Angriff erwartet und richtete die Pistole sofort auf Eddie. Ein Schuss knallte durch den Raum und hallte von den Wänden wieder. Eddie stolperte und fiel Johnny zu Füßen auf den Boden, nur ein röchelndes Husten war noch von ihm zu hören. Rainbow hatte Johnny erreicht und attackierte ihn mit Stichen, Schlägen und Tritten – mehr in blinder Wut, als irgendeinem Plan folgend. Endlich überwand auch Enathan seine Schrecksekunde und beteiligte sich an der wilden Balgerei. Rosie dagegen blieb stehen und schrie panisch.

Bald rollten sie sich am Boden, ineinander verkeilt wie streitende Katzen. Rainbow versuchte immer wieder, Johnny mit der Klinge in ihrer Hand zu erreichen, während dieser wiederum seine Pistole auf einen der Angreifer richten wollte. Enathan klammerte sich an Johnnys Arm und versuchte genau das zu verhindern. Nach schier endlosen Momenten der Keilerei, des Geschreis und der wilden Beschimpfungen durchbrach ein weiterer Schuss die Szene. Johnny starrte Enathan für eine Sekunde an. Er wollte etwas sagen, doch brachte er nur ein ersticktes Glucksen hervor und brach dann zusammen. Eine dünne Blutspur rann ihm aus dem Mund. Angewidert ließ Enathan Johnnys Arm los, den er ihm mit der Waffe in der Hand zur Brust gedreht hatte. Er setzte sich nach Atem ringend auf und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war.

„Eddie!“ Rainbow eilte zu ihrem Kumpel, der ein paar Schritte entfernt blutüberströmt am Boden lag.

„Scheiße, das war ja echt eine super Idee.“ Eddie versuchte sich aufzurichten und zuckte unter den Schmerzen zusammen, die ihn wieder zu Boden warfen. „Der Arsch hat mir in die Schulter geschossen.“

„Glück gehabt, dass der Typ nicht besser schießen konnte“, versuchte sie vergeblich, ihn aufzumuntern.

„Glück? Du immer mit deinem Glück! Darüber sollten wir echt mal reden.“

Rainbow wandte sich an Enathan. „Wir kümmern uns um Eddie. Du musst diesen Crack aufhalten, sonst war der ganze Mist hier umsonst.“

Enathan nickte, blieb aber ratlos am Boden sitzen.

„Jetzt, Eth! Nimm dein scheiß Bike, fahr zum scheiß Raumhafen und mach den Typ fertig!“, schrie Rainbow ihn an.

„Ja, okay“, antwortete Enathan, endlich aus seiner Schockstarre gerissen. Er stand auf und sah sich im Raum um. Rainbow drückte mit einem Stück Stoff auf Eddies Wunde, während dieser sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzog. Rosie stand noch immer wie angewurzelte da, Tränen rannen ihr aus den Augen und sie zitterte am ganzen Körper. Enathan wollte noch etwas sagen, irgendetwas, das sie aufmunterte. Aber er entschied sich dagegen. Wortlos nahm er Johnnys Pistole und eilte die Treppe hinauf.

 

Enathans Hoverbike raste über die breite Straße, die von der Stadt zum Raumhafen führte. Die Straßenbeleuchtung blitzte in einem schnellen Rhythmus an ihm vorüber. Mit jedem Meter, den er zwischen sich und dem hellen Treiben der Stadt ließ, welches den Ort des Geschehens unter einem Mantel aus Licht und Lärm versteckte, klärten sich auch seine Gedanken. Er hatte Johnny umgebracht. Erschossen, ermordet. Es war Notwehr, dachte er sich schnell, natürlich war es Notwehr. Es wurde ihm immer mehr bewusst, welches Glück sie hatten und wie dumm er war zu glauben, sein Plan könnte funktionieren. Er hatte seine Freunde in diese Sache hinein gezogen und jetzt lag sein bester Kumpel Eddie niedergeschossen am Boden in diesem verdammten Keller. Sie hatten gemeinsam ja schon viel Unsinn angestellt und waren auch schon das eine oder andere Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, diese Nacht aber schlug definitiv ein neues Kapitel auf. Doch dieser Weg musste nun bis zum bitteren Ende gegangen werden. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Vor sich sah er die Lichter des Raumhafens, die schnell näher kamen. Zu dieser Nachtzeit waren nur wenige andere Fahrzeuge auf der Straße unterwegs und so kam er schnell voran. Das eigentliche Problem war es aber, Crack zu finden. Er dachte darüber nach, wo der Anschlag statt finden sollte. Johnny hat ihm natürlich nicht alle Details verraten, er wusste nur soviel, dass es um irgendwelche Treibstofftanks ging. Der ursprüngliche Plan sah ja vor, dass er es mit Crack zusammen ausführen sollte. Crack wusste sicher alle Details, Enathan dagegen war nur als Handlanger eingeplant gewesen, als derjenige, der sich die Hände schmutzig machen durfte und – falls etwas schief lief – als Kanonenfutter vorgeschickt werden sollte. Wie naiv er doch war. Ab jetzt keine Gangs mehr, egal wie cool sie auch zu sein scheinen, schwor er sich.