Als sich eine Wolke vor die spätsommerliche Sonne schob, wurde er aus seinen Träumereien gerissen. Er hatte im Moment dringendere Probleme, als von Abenteuern auf fremden Welten zu phantasieren. Die gestrigen Ereignisse sickerten langsam in sein Bewusstsein zurück und füllten, von Rosies Geschichte unterstützt, die Lücken in seinem Gedächtnis. Wie alle Hoverbiker, die etwas auf sich hielten, wollte auch er zur coolsten Gang der Stadt gehören – zu den Red Panthers. Und tatsächlich hatte er es geschafft, aufgenommen zu werden. Zumindest so gut wie – denn wer wirklich dazu gehören wollte, musste erst die Aufnahmeprüfung über sich ergehen lassen. Irgendein pubertäres Männlichkeitsritual, dachte er sich, mehr zur Unterhaltung der alten Hasen, als um irgendwelche Qualitäten zu beweisen. Doch was war seine Aufgabe gewesen? Er konnte sich erinnern, wie er mit Johnny, dem Anführer der Gang und offenbar Rosies Bruder, und Crack, einem durchgeknallten Junkie und der rechten Hand Johnnys, über diese Aufgabe in Streit geraten war. Er hatte das dringende Gefühl, dass er diese Aufgabe nicht ausführen konnte, ja viel mehr ihre Ausführung sogar verhindern musste. Und warum war der gestrige Tag und seine Ereignisse wie hinter einem dichten Nebel verborgen, der nur Stück für Stück Teile des Geschehens preisgab?

Er blickte wieder über die Stadt zum Raumhafen und sah einem Frachter zu, wie dieser langsam in den Himmel aufstieg und bald hinter einer Wolke verschwand. Der Lärm der Stadt verschluckte jegliches Geräusch, dass das Raumschiff bei seinem Flug verursachte.

„Der Raumhafen!“, platze es plötzlich aus ihm heraus, als ihn die Erkenntnis wie eine Welle überrollte. Es war nicht bloß eine Mutprobe, die er zur Belustigung von ein paar halbstarken Gangern auszuführen hatte. Johnny hatte ganz andere Pläne. Und er musste aufgehalten werden!

Enathan sprang auf sein altes Bike, startete es nach mehreren Versuchen und raste hinunter in die Stadt. Er musste Rosie finden und ihr erzählen, was ihr Bruder wirklich vor hatte.

 

Rosie saß gerade, wie jeden Sonntag Nachmittag, mit Freundinnen in ihrem Lieblingscafé im Erdgeschoß des Park Towers, als Enathan herein stürmte und sie mit einem „Ich muss mit dir reden!“ zur Tür hinaus zerrte. Mit hochrotem Kopf und unter allgemeinem Gekicher folgte sie ihm widerwillig.

„Ich weiß, was Johnny vorhat!“, redete er auf sie ein, als sie draußen vor der Tür standen.

„Was meinst du?“, fragte sie übertrieben gequält und schnitt eine Grimasse in Richtung ihrer Freundinnen, die wie aufgefädelt an den großen Fensterscheiben klebten und die Szene mit Eulenaugen höchst amüsiert beobachteten. Enathan zog Rosie weiter weg, um dem Blickfeld ihrer aufmerksamen Begleiterinnen zu entkommen.

„Ich weiß wieder, welche Mutprobe ich machen sollte. Ich kann mich wieder an alles erinnern!“

„Schön für dich“, sagte sie, nach wie vor genervt über diese plötzliche Störung. „Und deshalb machst du hier so ein Theater? Gestern wolltest du noch kaum reden mit mir“, fügte sie trotzig hinzu. Sie hatte sich mit ihrer Anmerkung am Tag zuvor zwar erhofft, ihn wieder zu sehen, doch dieser peinliche Auftritt vor allen Leuten war dann doch nicht ganz ihn ihrem Sinn.

„Hör mal, ich wäre nicht hier, wenn es nicht wichtig wäre. Dein Bruder Johnny und dieser durchgeknallte Crack planen einen Anschlag. Und mich wollten sie los schicken, um den Scheiß auszuführen.“

Für einen Moment starrte sie ihn fassungslos an, dann lachte sie laut los. „Was redest du für einen Unsinn? Johnny macht immer eine Menge schräger Sachen – okay, er ist ein Arsch“, räumte sie ein, „doch er würde nie einen Anschlag auf jemanden begehen.“

„Nicht auf jemanden, auf den Raumhafen.“

„Das glaub' ich nicht, warum sollte er das tun? Du bist da oben immer noch nicht ganz richtig, oder?“ Sie tippte mit dem Finger auf ihre Schläfe, um die Frage zu unterstreichen.

„Du musst mir glauben! Er und Crack gehören zu diesen Fanatikern. Du weißt schon, diese Traditionalisten, die meinen, Raumfahrt und Fortschritt sei schlecht für die Menschen und muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Kannst du dich noch an die Schießerei vor ein paar Monaten im Einkaufszentrum erinnern? Das waren genau diese Typen.“

„Woher weißt du das alles? Und was hast du überhaupt damit zu tun?“, fragte sie noch immer ungläubig.

„Du weißt ja, ich bin der Neue. Ich will schon die ganze Zeit Mitglied bei seiner bescheuerten Gang werden und da dachte er sich wohl, den Neuen kann er doch mal für die Drecksarbeit vorschicken. Ich sollte mit Crack rüber zum Raumhafen fahren und Sprengsätze platzieren. An irgendwelchen Tanks.“

„Sprengsätze?“

„Wenn ich es doch sage! Ich glaube, ich weiß sogar, wo er sie lagert. Unter der alten Werkshalle, wo ihr immer abhängt, gibt es doch diesen versperrten Keller.“

„Für den Keller hat aber niemand den Schlüssel. Außerdem darf dort niemand hin, sagt Johnny. Ist zu gefährlich.“

„Klar sagt er das. Ich bin mir aber sicher, dass er dort sein ganzes Zeug lagert.“

„Ich weiß nicht...“

Rosie konnte es noch immer nicht glauben, aber ein Gefühl sagte ihr, dass an dieser Geschichte etwas dran war. Sie hatte Johnny und Crack, den sie noch weniger ausstehen konnte als ihren Bruder, immer wieder beobachtet, wie sie ernst miteinander flüsterten und sofort damit aufhörten, wenn jemand in die Nähe kam. Wie sie immer wieder für ein paar Tage verschwanden und keiner wusste, wo sie waren – oder zumindest ihr nichts sagen wollte. Waren vielleicht die ganzen Red Panthers darin verwickelt? Nein, das konnte sie nicht glauben. Das waren halbstarke Jungs, die sich für harte Biker hielten, aber beim ersten Anzeichen von richtigem Ärger auf und davon waren. Und die Mädels schon gar nicht. Die Meisten von ihnen konnte sie zwar ebenso wenig ausstehen, aber zu sowas wie einen Anschlag waren sie nicht fähig. Aufgetakelte Tussis und Begleiterscheinungen der Möchtegern-Ganger, dachte sie sich. Vielleicht waren die Panthers für Johnny nur eine gute Möglichkeit, neue Leute für seine Sache zu rekrutieren. Neue Leute wie Enathan. Sie sah ihn unentschlossen an. Irgendwie mochte sie ihn, er war anders, als die meisten Jungs in der Gang. Irgendwie erwachsener.

„Und deshalb hast du dich mit Johnny gestritten?“, fragte sie und hatte sich entschlossen, ihm zu glauben.

„Ja. Ich war so wütend, als ich erfahren habe, was er von mir verlangt. Weißt du, ich mag den Raumhafen. Oft sehe ich den Raumschiffen zu, wie sie starten und landen, und stelle mir vor, ich wäre auch Captain auf so einem Schiff und würde zu anderen Welten fliegen. Solche kranken Typen wie dein Bruder wollen das alles zerstören und Unschuldige verletzen oder ermorden, weil sie irgendwelchen dummen Ideologien nachlaufen.“

„Was willst du jetzt tun?“

„Wir müssen ihn aufhalten, Rosie. Was er vor hat, darf nicht passieren!“

Rosie nickte und versuchte das alles zu begreifen. Ihr Bruder war vielleicht ein Attentäter und sie hatte offenbar nichts davon gemerkt, stellte sie entsetzt fest.

„Wir müssen zur Polizei gehen“, schlug sie vor.

„Nein, das bringt nichts“, wehrte Enathan ab. „Wer soll uns schon glauben. Die schreiben bestenfalls eine Aktennotiz und kümmern sich nicht weiter darum. Außerdem bin ich bei den Bullen nicht so beliebt, hatte da schon ein paar mal Ärger“, fügte er hinzu. „Ich glaube, was Johnny vorhat, wird in den nächsten Tagen passieren. Vielleicht schon morgen. Wir müssen selbst etwas tun.“

Beide standen schweigend da und grübelten vor sich hin, ignoriert von den Menschen, die an ihnen vorbei gingen. Zwei Jugendliche mit ihren Problemen, nichts was jemanden wirklich interessierte. Ein scheinbar herrenloser Hund beschnüffelte sie kurz und trottete dann ebenfalls unbeeindruckt weiter. Diese Sache mussten die beiden ganz allein durchstehen.

„Okay“, unterbrach Enathan die Stille, „wir müssen in das Headquarter der Red Panthers einbrechen und diese Sprengsätze klauen. Und wir müssen das heute Nacht tun.“

„Wir beide, ganz allein?“, zweifelte Rosie.

„Ich rufe ein paar Kumpels an“, erwiderte er, als würde das alle Probleme lösen. „Kennst du den kleinen Park, ein paar Gassen von eurem Headquarter entfernt? Dort treffen wir uns heute Nacht, sagen wir um Mitternacht.“

Rosie war alles andere als begeistert, besonders da sie ungewollt in diese Sache hinein gezogen wurde. Aber sie sah ebenfalls ein, dass etwas getan werden musste. Langsam nickte sie, mehr um sich selbst zu überzeugen.

 

Der geschäftige Ring um Graz war in der Nacht hell erleuchtet und kam nie wirklich zur Ruhe. Die hohen Gebäude strahlten in allen Farben, als gäbe es Nacht für Nacht einen Wettstreit um das hellste Kunstwerk. Großflächige Leuchtreklamen auf den Fassaden priesen in bewegten Bildern die Produkte des rastlosen Treibens an, manifestierten die Wünsche und Träume der Bewohner der Stadt, oder zeigten ihnen vor, welche Wünsche und Träume gerade der aktuellen Mode entsprachen. Zwischen diesen erleuchteten Monumenten schwirrten kleine bunte Lichter, am Boden und in der Luft, und gaben dem Bild eine fast psychedelische Note.

Der Treffpunkt, den Enathan ausgewählt hatte, war so ziemlich das Gegenteil davon. Zweifellos eine der dunkelsten und stillsten Gegenden der Stadt, waren hier hauptsächlich Lagerhallen und großteils verlassene Industriegebäude. Wenn schon am Tag hier nicht viel los war, weil auch die letzten Firmen ihre Geschäfte in den Rand der Stadt verlegt hatten, war dieser Ort in der Nacht der ideale Unterschlupf für allerlei zwielichtige Gestalten und Spielwiese für verschiedene Banden abseits jeglicher Legalität – der ideale Platz für eine Gang wie die Red Panthers.

Nur zwei seiner Freunde waren seinem Aufruf gefolgt. Rainbow saß auf der Lehne einer halb verwitterten Parkbank und spielte unruhig mit einem Klappmesser herum, während sie Enathans Ausführungen zuhörte. Ihren Spitznamen verdankte sie den bunten Haarsträhnen auf ihrem sonst glatt rasierten Kopf, die jetzt unter der Kapuze ihrer Jacke hervor lugten. Eddies dunkle Locken dagegen waren ein harter Kontrast dazu und bildeten fast so etwas wie ein Nest auf seinem Kopf. Und wenn es ein schäbigeres Hoverbike gab, als das von Enathan, dann war das wohl Eddies Inazuma-5X, an das er sich gerade lehnte. Rosie stand schweigsam und ein wenig schüchtern daneben.

„Und deshalb brauche ich eure Hilfe. Wir müssen in das Headquarter der Red Panthers einbrechen und diese Bomben wegbringen“, endete Enathan seine Geschichte und blickte erwartungsvoll in die Runde.

Rainbow starrte ihn weiter an, als würde sie auf die Pointe warten, auf die Auflösung, dass alles nur Spaß war.

„Du bist völlig wahnsinnig“, unterbrach Eddie das Schweigen. „Seit Monaten liegst du mir mit dieser Biker-Gang in den Ohren, dass sie die härtesten Typen sind und du unbedingt dazu gehören willst. Und dann kommst du mit dieser Geschichte und verlangst von uns, dass wir dir helfen, dort einzubrechen und sie zu beklauen. Die machen uns fertig, ist dir das klar?“

„Ich weiß ja, wie das alles klingt. Aber wir müssen etwas tun. Wir dürfen nicht zulassen, dass Johnny seinen Plan ausführt.“

„Ach ja, und da hast du dir gedacht, legen wir uns mal schnell mit ein paar durchgeknallten Terroristen an und retten die Welt. Ich meine, das ist was anderes, als irgendwo ein Bike zu klauen.“

„Enathan hat recht“, unterbrach ihn Rosie. „Ich habe die Geschichte zuerst auch nicht geglaubt. Aber ich kenne Johnny, er ist zu sowas fähig und wenn da wirklich irgendwelche Sprengsätze lagern, müssen wir sie verschwinden lassen.“

Rainbow nickte. „Krasse Story. Aber ich glaub dir, Eth.“ Sie klappte ihr Messer zusammen und ließ es in einer der vielen Hosentaschen verschwinden. „Wenn du meinst, du musst das tun, dann bin ich dabei.“

„Na toll, sind sich ja wieder alle einig“, versuchte Eddie ein letztes Aufbegehren.

„Hör mal, du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Aber ohne euch schaffe ich das nicht“, antwortete ihm Enathan.

„Ja ja, als hätte ich dich jemals im Stich gelassen. Ach was soll's, ich bin auch dabei. Aber wie hast du dir das vorgestellt? Wir marschieren dort einfach rein und legen uns mit den Typen an?“

„Ich glaube nicht, dass wir uns mit irgendwem anlegen müssen“, meinte Rosie. „Die Jungs waren in den letzten Nächten oft außerhalb der Stadt, Wettrennen mit irgendwelchen anderen Gangs. Wenn wir Glück haben, ist gar niemand dort.“

„Wenn wir Glück haben“, wiederholte Eddie und griff nach einem Baseballschläger, der seitlich an seinem Bike befestigt war. „Aber ich verlass mich lieber nicht darauf.“

„Wir haben doch immer Glück. Irgendwie“, meinte Rainbow sarkastisch. „Also worauf warten wir noch?“

Und so waren sie sich einig.