Ein Aufbruch

Als die letzten Lichtstrahlen der schwachen Frühjahrssonne hinter dem Horizont verschwanden, wurde es merklich kühler zwischen den Zinnen der Burgmauer. Dietrich blickte über den See auf die Stadt. Die Lichter in den Fenstern der Fachwerkbauten hoben sich langsam vom schwindenden Tageslicht ab, die ersten Lampen in den Häusern brannten bereits. Ein kleines Flussschiff wurde soeben an einem der Stege vertäut und die Ware eifrig ausgeladen, solange es noch nicht ganz dunkel war. Jeder, der noch etwas zu erledigen hatte, versuchte nicht zu lange im Dunkel unterwegs zu sein.

 

Die Stadt Rabenstein war zwar ein relativ sicheres Pflaster, im Vergleich zu manch anderer Stadt, aber wenn an einem Ort verschiedenste Söldnergruppierungen und alles, was sonst noch eine Waffe halten konnte und damit seine eigene Meinung verstärken wollte, mit Wein, Weib und Gesang auf Aufträge wartete, konnte schon mal etwas mehr Adrenalin in der Luft liegen.

„Herr von Hagenbach...?”

Der junge Leutnant zog seinen Mantel enger, um sich vor dem kühlen Wind zu schützen.

„Ähm, Herr Hagenbach...?”

Er drehte sich, aus seinen Beobachtungen gerissen, zu dem jungen Wachposten um. Er muss gerade mal achzehn sein, dachte sich Dietrich. Ein leichtes Schmunzeln ging über seine Lippen, als er sah, wie der Wachmann nervös seine Hellebarde umklammerte.

„Was ist?”

„Sie erwarten Euch jetzt”, sagte der Wachmann, durch Dietrichs Schmunzeln noch weiter verunsichert.

„Gut, ich komme.”

Der Wachmann salutierte und ging auf seinen Posten zurück. Dietrich richtete seinen Mantel zurecht und stieg die Stufen hinab, die zum Saal führten. Er ertappte sich dabei, wie er in freudiger Vorahnung zu grinsen begann.

 

Als er den Saal betrat, sah er die Hauptleute Hagen Barikson und Erik Frygardt über eine große Karte gebeugt an der Tafel stehen. Sie könnten Brüder sein, dachte sich Dietrich, so ähnlich sehen sie sich. Haare und Bart in Zöpfen geflochten, von mächtiger Statur, waren ihre nordischen Vorfahren nicht zu übersehen. Auf Grund der Abwesenheit des Obristen hatte Hauptmann Barikson den militärischen Oberbefehl. Und wie es schien, gab es Arbeit. Deshalb wohl waren sie so in ihre taktischen Gespräche vertieft, dass sie ihn nicht zu bemerken schienen.

Etwas abseits davon saß der Schatzmeister von Burg Rabenstein, ein, wie Dietrich bemerkte, jahrhundertealter Gnom namens Ignazius Goldstein, der eifrig Zahlen auf einem Stück Pergament notierte. Es gab wirklich Arbeit.

 

„Wie geht es Eurer Fechtschule?”, fragte Hauptmann Barikson abrupt, ohne von seiner Karte aufzusehen. Hauptmann Frygardt griff nach einem vor ihm liegenden Messer und schnitt sich ein Stück Brot ab.

„Meine Schüler sind noch wenig an der Zahl aber umso motivierter, in den Kampf zu ziehen”, antwortete Dietrich stolz.

„Nun, wie mir scheint, werden sie jetzt ihre erste Feuerprobe erfahren”, Hauptmann Barikson sah von der Karte auf und blickte den jungen Leutnant forschend an. „Ihr, Leutnant von Hagenbach, habt mit der Führung des 2. Fähnleins großes Talent bewiesen. Eure Fähigkeiten scheinen sogar so groß zu sein, dass Ihr eine eigene Fechtschule aufgemacht habt. Seid Ihr nun bereit, mit euren Männern in den Krieg zu ziehen?”

„Jawohl!” Dietrich konnte seine Freude kaum noch verbergen. „Wohin ziehen wir?”

„Nach Osten”, antwortete ihm Hauptmann Frygardt und rammte sein Messer durch die Karte in den Tisch. Die Klinge wippte genau über einer waldreichen Gegend an der Ostküste, die wegen der unheimlichen Dinge, die dort geschahen, die Nebelwälder genannt wurde.

„Macht Eure Männer bereit, in zwei Tagen ziehen wir los. Ostarovia braucht unsere Hilfe...”

 

 

Diese Geschichte diente als Einleitung zu einer Pen&Paper-Runde und war der Auftakt für ein Rollenspielabenteuer über drohenden Krieg in den Reichen Daakien und Ostarovia.